„Hartmut, hast Du keine Angst?“ Besorgte Fragen höre ich oft. Spätestens dann, wenn es wieder so weit ist. Wenn ich meine Sachen packe, um die nächste Reise in den Kongo anzutreten. Zugegeben, meine Frau und meine Freunde haben mit dieser Angst nicht ganz unrecht. Ein mulmiges Gefühl ist mein ständiger Reisebegleiter. Komme ich auch dieses Mal zurück? Lebend? Einmal habe ich mitten im Busch fast mein Flugzeug verpasst, da hätte ich Wochen auf die nächste Maschine warten müssen. Doch wirklich gefährlich ist die Dunkelheit. Da gehe ich nicht auf die Straße oder in den Busch. Ein Menschenleben ist im Kongo nicht viel Wert. Viele fragen sich, ob ich verrückt sei, weil ich Jahr für Jahr in den Kongo reise. Seit ich jedoch während meiner ersten Reise 2006 die katastrophale Wasserversorgung und die verheerenden Auswirkungen auf die Menschen gesehen habe, steht für mich fest: Ich reise wieder dorthin, ich will helfen, ich will die Wassernot vor Ort bekämpfen. Und mittlerweile zeigt mein Projekt Brunnenbau macht Schule Erfolge, die Nachfrage wächst und so erhalten immer breitere Bevölkerungsschichten Zugang zu hygienisch einwandfreiem Wasser. Das motiviert. Da will und muss ich weitermachen. Trotz guter Planung: Ein Trip in den Kongo ist kein Urlaub. Für mich ist das immer wieder eine Reise ins Ungewisse.
Faszinierend, aber auch anstrengend, das ist der Kongo. Chaos, Armut und fehlende Infrastruktur – es sind diese massiven Eindrücke, die ich mit diesem Land assoziiere und mit denen ich vor Ort unmittelbar konfrontiert werde. Diese Eindrücke sind intensiv und haben sich seit meiner ersten Reise nicht verändert. Das beginnt schon am Flughafen in Kinshasa. Die unübersehbare Präsenz von Militär und Uniformen entsetzt mich immer wieder. Für die Gesundheitsbehörde und die Polizei muss der Einreisende unzählige Formulare ausfüllen. Jeder will Geld. Die Bestechung der Uniformierten gehört im kongolesischen Einreisezirkus zum Tagesgeschäft. Das ist anstrengend und dauert Stunden. Zehn Dollar hier, 15 Dollar da. Mit Bestechungsgeldern oder der „zweiten Währung“, dem Mais-Bier, dem Lieblingsgetränk der kongolesischen Männer, geht es langsam dem Ausgang entgegen. Ohne geht nichts. Die Einreise kostet: Zeit, Nerven und Geld.
Raus aus dem Flughafen und rein in die tropische Hitze. Abgase und Lärm überall. Die Feinstaubbelastung ist enorm, viele der Städter leiden unter Heiserkeit und Husten. Das macht einen kaputt; man will hier nur noch raus! Der Zirkus beginnt von Neuem: Straßensperren, Bewaffnete, weitere Bestechungsgelder, um zur nächsten Sperre zu gelangen. Der Satz: „Ich bin auch arm, ich spendier’ euch ein Bier“, funktioniert auch hier draußen. Alles erscheint weit weg von unserer Welt und von unserem Leben. Man kann hier nicht einfach ins Auto steigen. Man muss Fahrer und Wagen mieten, das kostet bis zu 500 Dollar am Tag, denn Benzin ist teuer. Für wenige Kilometer ist man einen halben Tag unterwegs. Auf holprigen Pisten fahren wir übers Land, in die Provinz, die Fahrt ist im wahrsten Sinne des Wortes ein erschütterndes Abenteuer. Flüchtlinge – im ganzen Kongo sind es viele Millionen, insgesamt zehn Prozent der Gesamtbevölkerung – hausen unter Folien links und rechts entlang der Straßengräben. Die Kochstellen sind aus Abfall: Müll, der brennt. Mir wird dabei ganz schlecht. Doch es ist vor allem die untragbare Situation der Frauen und Kinder, die mich erschüttert: Sie müssen oft kilometerlange Fußmärsche zurücklegen, um Wasser für ihre Familien zu holen. Auf den bunten Märkten erinnern mich die hübsch verzierten Kindersärge, die hier so selbstverständlich feilgeboten werden, immer wieder an die hohe, durch die Wasserverschmutzung verursachte Kindersterblichkeit.
Ich ziehe einfachere Klosterherbergen teuren Hotels vor – auch deshalb, weil ich die gesamten Kosten meiner Reisen selbst trage. Trotzdem kostet eine Übernachtung mit Frühstück für Weiße wie mich 50 Dollar; Schwarze zahlen 35 Dollar. In der Herberge herrscht Ruhe und Frieden – endlich. Es gibt warmes Bier in 1-Liter-Flaschen, Omelette, Ziegenfleisch und gekochte Maniok-Blätter. Ich esse am liebsten Reis, der schmeckt im Kongo hervorragend. Trotzdem bin ich mit dem Essen vorsichtig, ich möchte nicht krank werden. Innerhalb von zehn Tagen wiege ich schon mal fünf Kilo weniger. Mein typischer Tag in der Herberge sieht so aus: Nach der Frühmesse und dem Frühstück komme ich ins Gespräch mit den Organisatoren und Brunnenbauern, um zu sehen, wo wir stehen und was konkret zu tun ist. Das kleinste Thema verursacht auch hier die größte Diskussion. Am Nachmittag sind alle müde, auch wegen der Hitze. Der Tag ist gelaufen.
Mangelnde Hygiene in den Krankenhäusern: Viele Babies verlieren ihre Mutter bei der Geburt und kommen in Waisenhäuser.
Eine Dusche sieht im Kongo so aus, dass man sich eine Büchse Wasser bis zu zehn Mal über den Kopf gießt. Man kann nicht einfach unter die Dusche springen und den Wasserhahn aufdrehen. Der Komfort in Deutschland, Wasser jederzeit, sogar heiß, zur Verfügung zu haben, erscheint mir von hier aus gesehen als perverser Luxus. Die Wassersituation, mit der die Menschen hier leben müssen, trifft die Kranken besonders hart, das habe ich bei meinen vielen Besuchen in Krankenhäusern immer wieder gesehen. Es gibt weder Wasser noch elektrisches Licht. Kühlmöglichkeiten für Pharmazeutika fehlen ebenso, die Medikamente vergammeln schnell in der tropischen Hitze. Patienten liegen nicht auf Matratzen, sondern auf Bettgestellen mit nacktem Maschendraht oder gleich auf dem Fußboden. Im Hof davor warten die Familienangehörigen und kochen, um den Kranken mit Nahrung zu versorgen. Am schlimmsten trifft es junge Mädchen: Sie entbinden oft schon im Alter von nur zwölf Jahren und sterben bei der Geburt. Die Neugeborenen füllen die Waisenhäuser. Mein Fazit: Im Kongo sollte man ganz einfach nicht krank werden!
Ich rede im Kongo immer mit vielen Menschen, letztlich um Brunnenbau macht Schule publik zu machen. Da habe ich keine Scheu, auch wenn die Hälfte aller Gespräche vielleicht umsonst ist. Ich stoße dabei immer wieder auf freundliche, offene und sehr interessierte Menschen. In der Provinz, in Gegenden, wo kaum ein Weißer hinkommt, werde ich oft umringt. Die Menschen gehen auf mich zu und geben mir sofort die Hand. Ein Weißer kann da schon mal das unmittelbare Gefühl verspüren, sich sofort die Hände waschen zu müssen. „Wo kommst Du her? Wo gehst Du hin? Ah, Brunnen, bekommen wir auch so einen?“
Jeder der gute Arbeit hat, tut gerne was. Aber es gibt einfach zu wenig Arbeit. Einer schuftet und neun schauen zu, das ist normal. Aber es gibt auch die andere Seite: Viele Männer tun auch gerne eines, nämlich nichts. Abgesehen vom Konsum von Bier, selbst gebranntem Schnaps oder Haschisch. Motivation zu Arbeit ist alleine das Geld. Aber es sind schon meistens die Frauen und Kinder, die den Großteil der Arbeit verrichten und die Familie versorgen. Selbst die Kinder leiden schon unter verkrümmten Rücken als Folge des Wasserschleppens.
Ich muss gestehen, ich bin ein Einzelkämpfer, einer, der was bewegen will. Ich initiiere und organisiere gerne und halte die Leute zusammen. Man muss natürlich improvisieren können. Ruhestand bedeutet für mich Stillstand. Seit ich die katastrophale Wassersituation bei meiner ersten Kongo-Reise gesehen habe, war für mich klar, dass ich etwas bewegen will und muss. Trotzdem zehrt so eine Reise an meinen Kräften: Nach einem mehrwöchigen Kongo-Aufenthalt fühle ich mich krank, ausgelaugt und sehr müde. Ich merke, dass ich an meine Grenzen stoße. Ich brauche mehrere Wochen Urlaub, um mich von den Strapazen zu erholen. Schließlich bin ich auch nicht mehr der Jüngste und schon in Rente. Das mobile Brunnenbauprojekt bedeutet mir sehr viel. Ich kann erst damit aufhören, wenn Brunnenbau macht Schule zum Selbstläufer wird. Oder wenn ich 80 werde?